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Wenn China sich selbst überschwemmt: Überproduktion als blinder Fleck der Industriepolitik

Chinas wirtschaftlicher Aufstieg zur globalen Supermacht wurde maßgeblich durch eine aggressive Industriepolitik vorangetrieben. Massive staatliche Förderung, ehrgeizige Fünfjahrespläne und ein starker Fokus auf Exportmärkte haben das Land zur „Werkbank der Welt“ gemacht.

Doch dieses Modell zeigt zunehmend Risse – und eine der gravierendsten Schwächen ist die strukturelle Überproduktion. Produkte „Made in China“ fluten nicht nur die Weltmärkte, sondern stauen sich auch im Inland. Die Folgen reichen von Preisverfall und Deflation über internationale Spannungen bis hin zu einer gefährdeten sozialen Stabilität.

Wurzeln und Mechanismen der Überproduktion

Die Grundlage der chinesischen Überproduktionskrise liegt in der Industriepolitik selbst. Mit dem Plan „Made in China 2025“ wollte die Volksrepublik zur dominierenden Technologiemacht in Bereichen wie Robotik, Elektromobilität, Biotechnologie und Halbleitern aufsteigen. Um dieses Ziel zu erreichen, wurden massenhaft staatliche Subventionen verteilt, günstige Kredite gewährt und lokale Regierungen unter Druck gesetzt, in strategische Industrien zu investieren – oft ohne Rücksicht auf tatsächliche Nachfrage.

„In vielen Fällen werden Produktionskapazitäten nicht aufgebaut, weil es eine Marktnachfrage gibt, sondern weil es politische Anreize dafür gibt“, erklärt der Wirtschaftswissenschaftler Chen Zhiwu von der Hongkonger Universität. Das Resultat: Doppelte bis dreifache Überkapazitäten in zahlreichen Branchen – von klassischen Schwerindustrien wie Stahl und Aluminium bis hin zu neuen Schlüsseltechnologien wie Solarpanels und Elektroautos.

Der Umfang der Überproduktion: Von Schwerindustrie bis Hightech

Die Stahlindustrie ist ein Paradebeispiel. China produziert über 1 Milliarde Tonnen Stahl pro Jahr – rund 55 Prozent der weltweiten Menge – verbraucht aber nur etwa 40 Prozent davon selbst. Der Rest wird exportiert oder lagert in Zwischenlagern. Ähnlich verhält es sich mit Zement, Aluminium oder Kohle.

Doch die Überproduktion beschränkt sich längst nicht mehr auf traditionelle Branchen. Der technologische Ehrgeiz Pekings hat zu einem Boom in Bereichen wie Solarzellen geführt. Im Jahr 2024 produzierte China fast 80 Prozent aller weltweit verbauten Photovoltaikmodule – was zu einem Preisverfall von über 50 Prozent innerhalb von zwei Jahren führte. Auch bei Elektroautos gibt es dramatische Entwicklungen: Chinesische Hersteller wie BYD, Xpeng oder Nio produzieren weit über den Bedarf hinaus. Viele Neuwagen werden mit Rabatten von bis zu 40 Prozent angeboten, manche Fahrzeuge gar zu Herstellungskosten abgegeben, wie Reuters berichtete.

Preiskämpfe und Deflation als Folge

Die logische Konsequenz der Überproduktion ist ein ruinöser Wettbewerb um Marktanteile. Immer mehr Anbieter unterbieten sich gegenseitig – nicht nur auf dem Weltmarkt, sondern auch im chinesischen Inland. Diese sogenannte „Involution“ wurde kürzlich sogar vom Parteiorgan Qiushi kritisiert. Darin hieß es: „Ein Wettbewerb, der nur auf niedrigeren Preisen basiert, ist langfristig zerstörerisch und innovationsfeindlich.“

Auch Staats- und Parteichef Xi Jinping hat sich unlängst gegen den „ungezähmten Preiskrieg“ in Schlüsselbranchen ausgesprochen. Besonders in der Automobilbranche sind die Auswirkungen dramatisch. Laut einem Bericht der Financial Times vom Juli 2025 hat der chinesische Produzentenpreisindex (PPI) seit über 30 Monaten in Folge negativ tendiert. Im Juni 2025 lag der Rückgang bei −3,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahr – ein deutliches Zeichen für deflationären Druck.

Ökonomische Spannungen innerhalb Chinas

Diese Entwicklung hat schwerwiegende interne Folgen. Viele Unternehmen sehen sich mit sinkenden Margen, hoher Verschuldung und wachsendem Lagerbestand konfrontiert. In Provinzen wie Hebei oder Shandong stapeln sich unverkaufte Stahlprodukte und Solarpanels. Fabriken laufen im Teillastbetrieb, Arbeiter werden entlassen oder in Kurzarbeit geschickt. Gleichzeitig gerät die Finanzierung über lokale Staatsbanken unter Druck – nicht selten drohen Zahlungsausfälle oder Verschleppungen.

„Chinas Industrieproduktion läuft derzeit zu 120 Prozent, der reale Konsum aber nur zu 80 Prozent“, so eine Analyse des Wirtschaftsforschungsinstituts CKGSB. Dieses strukturelle Missverhältnis gefährdet langfristig die Stabilität der chinesischen Binnenwirtschaft. Auch der Immobiliensektor, bislang einer der größten Abnehmer von Stahl und Zement, steckt in einer tiefen Krise und trägt zur sinkenden Inlandsnachfrage bei.

Internationale Spannungen und geopolitische Risiken

Chinas Überproduktion hat mittlerweile globale Reaktionen provoziert. Die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen warnte mehrfach vor „nicht-marktwirtschaftlichen Verzerrungen“, die durch staatlich subventionierte Exportwellen aus China entstehen. Auch bei den G7-Treffen ist das Thema regelmäßig auf der Agenda.

Insbesondere die stark geförderten Solartechnologien und Elektroautos geraten in den Fokus: Die USA und die EU diskutieren über Strafzölle, um ihre eigenen Märkte zu schützen. China wiederum versucht, durch die „Belt and Road Initiative“ (BRI) neue Exportkanäle zu erschließen. Große Infrastrukturprojekte in Afrika, Südostasien oder Lateinamerika dienen auch dazu, überschüssige Produkte und Maschinen abzufließen.

Politische Reaktionen und Reformperspektiven

Die chinesische Führung hat das Problem erkannt, doch der Umgang damit bleibt widersprüchlich. Einerseits fordert Peking „qualitatives Wachstum“ und eine Reduzierung ineffizienter Kapazitäten, andererseits fördert man weiterhin massiv Zukunftstechnologien – ohne Rücksicht auf die vorhandenen Märkte. Der aktuelle 15. Fünfjahresplan enthält zwar Elemente zur „supply-side reform“, doch die Umsetzung ist schleppend.

„Das eigentliche Dilemma besteht darin, dass die politischen Ziele miteinander kollidieren: Einerseits soll China technologisch unabhängig werden, andererseits müssen ineffiziente Produktionsstrukturen abgebaut werden“, kommentiert der Ökonom Scott Kennedy vom CSIS-Institut in Washington.

Lokale Regierungen tragen ebenfalls zur Problemverschärfung bei: Sie fördern regionale Champions, um Arbeitsplätze zu sichern – selbst wenn dadurch Überkapazitäten weiter wachsen.

Herausforderungen und kritische Würdigung

Der politische Wille zur Strukturreform scheint vorhanden, doch an der praktischen Umsetzung hapert es. Alte Industrien lassen sich nicht einfach abschalten, ohne soziale Unruhen zu riskieren. Viele Regionen hängen wirtschaftlich vollständig von einzelnen Branchen ab. Zudem fehlt ein funktionierendes soziales Sicherheitsnetz, das den Übergang abfedern könnte.

Technologisch ist China zwar fortgeschritten, aber marktwirtschaftlich bleiben viele Strukturen planwirtschaftlich geprägt. Die Tendenz, mit immer neuen Subventionen auf wirtschaftliche Probleme zu reagieren, verschärft die Dynamik der Überproduktion zusätzlich. Ein Beispiel: 2024 wurden neue Subventionsprogramme für Batteriehersteller beschlossen – obwohl die Auslastung bestehender Kapazitäten unter 60 Prozent lag.

Ausblick und Handlungsempfehlungen

Kurzfristig muss die chinesische Führung klare Grenzen für staatliche Förderungen setzen und „Zombie-Unternehmen“ gezielt abbauen. Finanzielle Anreize sollten stärker an Effizienz, Qualität und Innovation gebunden werden. Auch Umweltstandards könnten als Instrument zur Kapazitätsreduktion dienen.

Mittelfristig braucht China eine deutliche Stärkung der Binnennachfrage. Das bedeutet höhere Löhne, eine bessere soziale Absicherung und neue Konsumimpulse – etwa durch Steuererleichterungen für Haushalte. Der Übergang zu einer konsumgetriebenen Wirtschaft würde nicht nur die Überproduktion dämpfen, sondern auch die Abhängigkeit vom Exportgeschäft verringern.

Langfristig ist ein Paradigmenwechsel nötig: weg von quantitativer Expansion, hin zu einem innovationsgeleiteten, nachhaltigen Wachstumsmodell. Dazu gehört auch, sich von der Illusion zu verabschieden, dass jede Zukunftstechnologie automatisch zur Exporterfolgsgeschichte wird.

Strukturelle Überproduktion

Die chinesische Industriepolitik hat das Land zur Supermacht gemacht – doch der Preis ist hoch. Strukturelle Überproduktion droht zur Achillesferse der Volkswirtschaft zu werden. Die negativen Auswirkungen sind nicht nur innerhalb Chinas spürbar, sondern haben auch globales Gewicht. Reformen sind dringend nötig, doch sie erfordern Mut, Koordination und einen tiefgreifenden Systemwandel. Nur wenn es Peking gelingt, seinen politischen Ehrgeiz mit ökonomischer Realität zu versöhnen, kann Chinas Industrie langfristig tragfähig bleiben – für sich selbst und für die Weltwirtschaft.

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