Ein strukturelles Problem verschärft sich
Deutschland steht vor einer massiven Herausforderung: Der Fachkräftemangel entwickelt sich zu einem der drängendsten Probleme für Wirtschaft, Gesellschaft und öffentliche Daseinsvorsorge. Die Kluft zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt wächst rasant – und sie betrifft längst nicht mehr nur die vielzitierten MINT-Berufe. Besonders in sozialen, handwerklichen und pflegerischen Bereichen schlägt die Entwicklung dramatisch durch.
„Wir beobachten eine strukturelle Verengung des Arbeitsmarkts“, erklärt Holger Schäfer vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW). „Das ist kein temporärer Engpass mehr – es ist ein systemisches Phänomen.“
Gründe für den Fachkräftemangel
Die Ursachen sind vielschichtig:
- Demografischer Wandel: In den nächsten Jahren gehen geburtenstarke Jahrgänge in Rente. Zugleich kommen weniger junge Menschen nach.
- Wandel der Arbeitswelt: Digitalisierung und Dekarbonisierung schaffen neue Berufsbilder, während andere verschwinden.
- Qualifikationslücken: Viele Menschen sind nicht (mehr) für die Berufe ausgebildet, in denen aktuell Fachkräfte fehlen.
- Fehlende Attraktivität: Vor allem Pflege- und Erziehungsberufe gelten als schlecht bezahlt, belastend und wenig wertgeschätzt.
Laut einer aktuellen IW-Studie wird die sogenannte „Fachkräftelücke“ bis zum Jahr 2028 auf 768.000 unbesetzte Stellen anwachsen – ein Anstieg um mehr als 50 Prozent im Vergleich zu 2024.
Besonders betroffene Branchen
1. Pflegeberufe: Dauerkrise mit Ansage
Kaum ein Bereich ist so stark vom Mangel betroffen wie die Pflege. Bereits heute fehlen laut Bundesagentur für Arbeit rund 21.000 Pflegekräfte. Bis 2035 könnten es laut Prognosen der Bertelsmann Stiftung über 500.000 sein.
Katrin Weber, Pflegedienstleiterin aus Leipzig, berichtet: „Wir sagen jeden Monat Patienten ab, weil wir sie schlicht nicht versorgen können. Das trifft uns als Team emotional – aber vor allem trifft es die Menschen, die uns brauchen.“
Der Mangel ist nicht nur ein quantitatives, sondern auch ein qualitatives Problem: Oft fehlen nicht nur Pflegehilfskräfte, sondern examinierte Fachkräfte mit hoher Qualifikation.
2. Kitas und Erziehungswesen: Bildungsnotstand durch Personalnot
Auch in Kindertagesstätten herrscht akuter Mangel. Laut IW fehlen derzeit rund 30.800 Fachkräfte in Kitas – und bis 2028 könnte sich diese Zahl mehr als verdoppeln. Das Deutsche Jugendinstitut (DJI) warnt davor, dass insbesondere die Qualitätsstandards in der frühkindlichen Bildung nicht mehr gehalten werden können.
Eine Kita-Leiterin aus NRW sagt: „Wir haben Gruppen, die nicht mehr betreut werden können. Wir schreiben Bewerber\:innen an und kriegen keine Rückmeldung mehr. Die Eltern sind verzweifelt – und wir auch.“
3. Sozialarbeit und Pädagogik
Nicht nur bei kleinen Kindern, sondern auch in der Jugendhilfe, in Schulen und sozialen Einrichtungen fehlt Personal. Rund 21.000 offene Stellen in der sozialen Arbeit prognostiziert das IW. Besonders Jugendämter schlagen Alarm, da sie aufgrund der hohen Fallzahlen mit ihrer Kontrollfunktion überfordert sind.
4. Handel und Verkauf
Überraschend stark betroffen ist auch der Einzelhandel. Mit über 40.000 fehlenden Fachkräften bis 2028 prognostiziert die IW-Studie eine der größten Lücken in dieser Branche. Die Gründe sind vielfältig: geringe Löhne, Schichtarbeit, wenig gesellschaftliche Anerkennung und sinkende Bewerberzahlen im Ausbildungsbereich.
„Früher hatten wir zehn Bewerbungen auf eine Azubi-Stelle im Verkauf – heute freuen wir uns über zwei“, sagt eine Filialleiterin eines Supermarkts in Bayern.
5. Technische Berufe und IT
Der Mangel an IT-Fachkräften ist seit Jahren bekannt – und spitzt sich weiter zu. Mit dem Fortschreiten der Digitalisierung steigt die Nachfrage nach Entwickler\:innen, Systemadministrator\:innen und IT-Sicherheitsexpert\:innen. Im Jahr 2024 waren laut Bitkom rund 149.000 Stellen unbesetzt – ein neuer Höchstwert.
Hinzu kommt der Mangel in klassischen technischen Berufen wie Maschinenbau, Elektrotechnik oder Mechatronik. Besonders im Mittelstand finden Unternehmen kaum noch geeignete Bewerber.
6. Handwerk und Industrie
Im Handwerk droht ein schleichender Exodus: In den nächsten Jahren wird eine halbe Million Handwerker\:innen altersbedingt ausscheiden. Besonders stark betroffen sind:
- Metall- und Elektroberufe
- Bau- und Ausbaugewerbe
- Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik
Die Handwerkskammer Berlin berichtet, dass mittlerweile jeder zweite Betrieb mit Personalengpässen zu kämpfen hat. „Wir müssen teilweise Aufträge ablehnen, weil wir nicht genug Leute haben“, erklärt ein Elektrobetrieb aus Brandenburg.
7. Logistik und Transport
Auch in der Logistik gibt es große Engpässe – besonders bei Lkw-Fahrern. Der Bundesverband Güterkraftverkehr schätzt, dass bereits heute über 100.000 Fahrer fehlen – Tendenz steigend. Gründe: schlechte Arbeitszeiten, geringe Löhne, kaum Nachwuchs.
8. Gastronomie, Bau und andere Dienstleister
Die Gastronomie leidet noch immer unter den Nachwirkungen der Pandemie. Viele Beschäftigte haben die Branche dauerhaft verlassen. Ähnlich sieht es auf dem Bau aus: hohe Belastung, Fachkräftemangel und schleppende Nachfolge in Familienbetrieben sind Gründe für den Engpass.
Wie sich der Fachkräftemangel auf den Alltag auswirkt
Der Fachkräftemangel hat längst spürbare Folgen für die Bevölkerung:
- Kita-Plätze fehlen, Eltern können nicht arbeiten.
- Pflegebedürftige bekommen keine Versorgung und müssen lange warten.
- Öffnungszeiten im Einzelhandel werden reduziert.
- Wirtschaftliche Folgen: Unternehmen bremsen ihre Produktion oder expandieren nicht.
„Der Fachkräftemangel ist längst kein Problem einzelner Branchen mehr – er gefährdet unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt“, warnt IW-Experte Gero Kunath.
Lösungsansätze: Was kann getan werden?
Die Politik hat das Problem erkannt – doch die Maßnahmen greifen bisher nur punktuell. Einige Ansätze im Überblick:
1. Ausbildung stärken
– Berufliche Bildung soll attraktiver werden.
– Ausbildungsvergütung erhöhen, Imagekampagnen für Mangelberufe starten.
– Bessere Berufsorientierung an Schulen.
2. Erwerbspotenziale heben
– Erwerbsquote von Frauen weiter erhöhen.
– Menschen im Ruhestand zur Weiterarbeit motivieren (z. B. durch steuerliche Anreize).
3. Einwanderung erleichtern
– Das neue Fachkräfteeinwanderungsgesetz (2024) soll es leichter machen, qualifizierte Kräfte aus Drittstaaten zu gewinnen.
– Vorbildprogramme wie „Triple Win“: Pflegepersonal aus Marokko, Philippinen oder Indonesien wird gezielt angeworben.
4. Digitalisierung fördern
– Automatisierung und KI können Fachkräfte entlasten, etwa in der Pflege oder Verwaltung.
– Voraussetzung: Qualifizierungsmaßnahmen für Mitarbeitende.
5. Arbeitsbedingungen verbessern
– Höhere Löhne, bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie verlässliche Arbeitszeiten könnten viele Berufe wieder attraktiver machen.
Ein Wettlauf gegen die Zeit
Der Fachkräftemangel ist kein temporäres Problem, sondern eine langfristige Herausforderung, die alle gesellschaftlichen Bereiche betrifft. Ohne entschlossene Maßnahmen auf verschiedenen Ebenen droht nicht nur wirtschaftlicher Schaden, sondern auch ein Verlust an Lebensqualität und gesellschaftlicher Stabilität.
Die nächsten Jahre werden entscheidend sein – für Unternehmen, für öffentliche Einrichtungen, aber auch für Millionen Bürgerinnen und Bürger, die auf funktionierende Dienstleistungen und Versorgung angewiesen sind.