Ein Modell der Generationenbrücke
Was auf den ersten Blick ungewöhnlich klingen mag, ist längst ein wachsender Trend: Seniorinnen, meist im Rentenalter, reisen als sogenannte „Leih-Omas“ oder „Granny-Au-pairs“ zu Familien im In- und Ausland, um dort Kinder zu betreuen, im Alltag zu helfen und neue Erfahrungen zu sammeln. Sie leben auf Zeit bei ihren Gastfamilien, ähnlich wie klassische Au-pairs – allerdings mit einem reichen Schatz an Lebenserfahrung. Für viele ist es eine Form des aktiven Alterns, für Familien ein Gewinn durch liebevolle, reife Unterstützung. Das Modell boomt – nicht nur international, sondern zunehmend auch in Deutschland.
Hintergrund: Wie aus einer Idee ein weltweites Konzept wurde
Die Hamburgerin Michaela Hansen gründete 2010 die Plattform Granny Aupair und setzte damit einen Impuls, der bis heute nachwirkt. Die damals 51-Jährige fragte sich: „Warum gibt es eigentlich Au-pair-Vermittlungen nur für junge Leute – aber nicht für Frauen meines Alters, die noch neugierig, fit und flexibel sind?“ Ihre Idee stieß auf Resonanz. Innerhalb weniger Jahre entwickelte sich eine Gemeinschaft von Frauen, die als Granny-Au-pairs weltweit unterwegs sind – von Australien über Kanada bis nach Südafrika.
Heute zählt die Plattform laut eigenen Angaben über 2.000 aktive Mitglieder aus 20 Ländern, die sich für Einsätze zwischen zwei Monaten und einem Jahr registrieren. „Unsere Grannys sind zwischen 50 und 75 Jahre alt, manche sogar älter. Sie wollen nicht auf der Couch sitzen, sondern etwas Sinnvolles tun“, so Hansen in einem Interview mit dem RND (RND, Juli 2025).
So funktioniert das Modell: Zwischen Engagement und Lebensfreude
Die Vermittlung erfolgt in der Regel über spezialisierte Plattformen wie granny-aupair.com. Interessierte Seniorinnen erstellen ein Profil, geben ihre Sprachkenntnisse, gesundheitliche Verfassung und pädagogische Erfahrung an. Familien wiederum beschreiben ihre Bedürfnisse – sei es Unterstützung bei der Kinderbetreuung, Begleitung älterer Menschen oder Hilfe im Haushalt.
Nach erfolgreichem Matching wird ein Einsatzrahmen vereinbart: Meist handelt es sich um unbezahlte Tätigkeiten gegen Kost und Logis, manchmal ergänzt durch ein kleines Taschengeld oder Fahrtkostenerstattung. Die Leih-Omas bleiben meist zwischen zwei und zwölf Monaten bei einer Familie. Neben der Vermittlungsgebühr (ca. 180–240 Euro für drei Monate) tragen die Frauen ihre Anreisekosten und Versicherungen selbst.
Wichtig ist eine klare Abgrenzung der Aufgaben: Eine Granny-Au-pair ist keine Putzfrau oder Pflegekraft, sondern eine ergänzende Unterstützung im familiären Alltag. „Wir sind keine Ersatzgroßeltern, sondern Bonuspersonen“, sagt Ingrid Huber, 67, aus Stuttgart. Sie lebt seit Mai 2025 bei einer Familie in Passade (Schleswig-Holstein) und unterstützt die Eltern von drei kleinen Kindern – ganz nach dem Prinzip der Freiwilligkeit.
Fallbeispiel: Ingrid Huber in Passade
Ingrid Huber ist eine typische Granny-Au-pair: agil, offen und empathisch. Die ehemalige Sekretärin entschied sich nach Eintritt in den Ruhestand für einen Einsatz als Leih-Oma. „Ich wollte noch einmal etwas Neues erleben, ohne gleich um die Welt zu fliegen. Da stieß ich auf das Modell und war sofort begeistert“, erzählt sie im Gespräch mit dem Kieler Nachrichten.
Sie betreut drei Kinder auf einem ländlichen Hof. Morgens bringt sie die beiden Größeren in den Kindergarten, danach unternimmt sie Spaziergänge mit dem Hund oder bastelt mit der Jüngsten. „Ich bin nicht der Animateur, aber ich bringe Ruhe rein“, erklärt sie. Die Eltern sind dankbar: „Ingrid ist keine Ersatzoma, aber eine riesige Entlastung. Ihre Geduld ist ein Geschenk.“
Für Huber ist der Aufenthalt nicht nur ein Geben, sondern auch ein Nehmen. Sie liebt die Natur, fährt täglich Rad und fühlt sich „endlich wieder gebraucht“. Abends isst sie mit der Familie, liest den Kindern vor oder zieht sich zurück. „Ich habe meinen Platz gefunden, ohne zu stören. Das ist Gold wert.“
Vorteile für beide Seiten
Der Nutzen eines Granny-Au-pair-Arrangements ist vielschichtig. Für die Seniorinnen bedeutet es ein selbstbestimmtes, aktives Leben nach der Erwerbstätigkeit. Viele suchen nach einer sinnvollen Aufgabe und gesellschaftlicher Teilhabe. Gleichzeitig erleben sie neue Kulturen, festigen Sprachkenntnisse und bauen interkulturelle Brücken.
Für Familien bedeutet die Leih-Oma eine enorme Entlastung – besonders dort, wo keine Großeltern in der Nähe sind oder beide Elternteile voll arbeiten. Die erfahrene Unterstützung ergänzt die Erziehung auf sanfte Weise. „Unsere Kinder haben mit der Granny jemanden, der Zeit hat und zuhört – das ist mehr als Betreuung“, sagt eine Gastmutter aus München.
Auch Kinder profitieren vom generationenübergreifenden Kontakt. Studien zeigen, dass Kinder, die regelmäßigen Umgang mit älteren Menschen haben, empathischer, geduldiger und selbstbewusster sind. Leih-Omas können damit auch zur Entwicklung sozialer Kompetenzen beitragen.
Herausforderungen: Kein Modell ohne Stolpersteine
So reizvoll das Konzept ist, so sorgfältig muss es vorbereitet werden. Denn nicht jede Konstellation ist automatisch harmonisch. Klare Absprachen vorab sind entscheidend: Wer macht was? Welche Rechte und Pflichten gelten? Gibt es feste Arbeitszeiten oder flexible Absprachen? Und was passiert bei Krankheit oder Unstimmigkeiten?
Auch finanzielle Aspekte können zum Stolperstein werden. Die Vermittlungsgebühr und Reiseausgaben sind von den Grannys selbst zu tragen. Sozialversicherungen oder gesetzliche Regelungen greifen meist nicht, da es sich um freiwillige Tätigkeiten handelt. Der rechtliche Status ist oft unklar – zwischen Ehrenamt, Gastverhältnis und Arbeit.
Zudem ist nicht jede Seniorin psychisch oder körperlich bereit für einen solchen Einsatz. Eine gewisse Anpassungsfähigkeit, Offenheit und Belastbarkeit sind essenziell. „Es ist schön, gebraucht zu werden – aber man darf sich nicht verlieren“, warnt eine ehemalige Teilnehmerin. Auch der Abschied nach Monaten enger Bindung fällt vielen schwer.
Tipps für Interessierte
Wer sich für einen Einsatz als Granny-Au-pair interessiert, sollte sich gut vorbereiten. Empfehlenswert ist der Austausch mit erfahrenen Teilnehmerinnen sowie eine umfassende Beratung durch die Vermittlungsplattform. Folgende Tipps gelten als Grundlage für eine erfolgreiche Zusammenarbeit:
- Erwartungen, Aufgaben und Grenzen schriftlich festhalten
- Versicherungen (Haftpflicht, Auslandskrankenversicherung) eigenständig abschließen
- Sprachkenntnisse auffrischen, kulturelle Eigenheiten annehmen
- Eigene Bedürfnisse ernst nehmen: Rückzugsort, Freizeit, Kommunikation
- Regelmäßiger Austausch mit der Gastfamilie zur Reflexion
Ausblick: Ein Modell mit Potenzial
Angesichts des demografischen Wandels und wachsender Mobilität ist das Modell der Leih-Oma aktueller denn je. Immer mehr Seniorinnen suchen nach aktiver Teilhabe, während Familien unter dem Spagat zwischen Beruf und Erziehung stehen. Das Modell kann ein Schlüssel zu generationenübergreifendem Miteinander sein – nicht als Ersatz für professionelle Betreuung, sondern als Ergänzung.
Zudem gibt es erste Entwicklungen hin zu sozialen Projekten im Ausland: Grannys, die in Entwicklungsregionen Kinder unterrichten oder Frauenprojekte unterstützen. Auch Einsätze innerhalb Deutschlands, etwa bei alleinerziehenden Eltern oder in Flüchtlingsfamilien, nehmen zu.
Gleichzeitig fordern Initiativen mehr rechtliche Klarheit und faire Standards. Eine einheitliche vertragliche Regelung, etwa analog zu Au-pairs, könnte Konflikten vorbeugen und mehr Menschen ermutigen, sich zu engagieren.
Erfahrung trifft Engagement
Das Modell „Leih-Oma“ zeigt eindrucksvoll, dass Altern nicht Stillstand bedeutet – im Gegenteil. Es eröffnet neue Horizonte für Frauen, die noch etwas erleben, lernen und geben möchten. Die Verbindung von Familiennähe, kulturellem Austausch und generationsübergreifender Solidarität ist ein Gewinn für alle Beteiligten.
Oder wie es Ingrid Huber sagt: „Ich habe mein zweites Leben entdeckt – nicht im Ruhestand, sondern im Aufbruch.“ Ein Modell, das Mut macht – für neue Formen des Zusammenlebens, in denen Erfahrung, Vertrauen und Mitmenschlichkeit zählen.